10.09.22 | 狂った一頁 | Ichiro Kataoka und Reiko Emura vertonen „A PAGE OF MADNESS“

JP 1926, R: Kinugasa Teinosuke, D: Inoue Masao, Nakagawa Yoshie, 71′, stumm, DCP

Wir präsentieren den japanischen Stummfilmklassiker A PAGE OF MADNESS, der live vertont und erzählt wird von Ichiro Kataoka und Reiko Emura. Emura spielt und improvisiert am Klavier, während Kataoka als sogenannter „Katsudô-Benshi“ performt. Der Katsudô-Benshi (Abkürzung: Katsuben) war in Japan bis weit in die 1930er Jahre hinein fester Bestandteil der Kinokultur und begleitete Stummfilmvorführungen als Erzähler:in. Der:die Sprecher:in erzählt dabei nicht nur die Szenen, sondern gibt mit verschiedenen Stimmen auch die Dialoge der im Film auftretenden Figuren wieder, verleiht ihnen also eine stimmliche Präsenz und liefert selbst eine Interpretation der Filmhandlung. Vom Katsuben als neutralem Erzähler kann also keine Rede sein. Während der 1920er und 30er Jahre war der Kinobesuch nicht allein vom Interesse am projizierten Film bestimmt, sondern auch von der – so die Hoffnung – mitreißenden Kunst des:der Erzähler:in und dem meisterhaften Einsatz seiner:ihrer Stimme. 

Im Zentrum des frühen Avantgarde-Streifens A PAGE OF MADNESS, der bis 1971 als verschollen galt, stehen namenlose Figuren im Strudel des Wahnsinns: Der Hausmeister einer Nervenklinik wandert durch die düsteren Korridore einer gefängnisartigen Institution und kehrt dabei immer wieder zur Zelle einer ganz bestimmten Insassin zurück – der seiner Ehefrau. Als die gemeinsame Tochter in der Anstalt erscheint, um der Mutter von ihrer anstehenden Heirat zu berichten, werden weitere Handlungsstränge in Gang gesetzt, die auf verschiedenen Zeitebenen die Vergangenheit der Familie erzählen, unter anderem warum sich die Mutter in ihrem wahnhaften Zustand befindet. Der visuelle Intensität des Films speist sich aus einem schier unerschöpflichen Fundus an Ideen: doppelte, dreifache, manchmal vierfache Belichtungen des Materials, dazu eine assoziative Montage, die nicht willkürlich sondern formal rigoros die Zuschauenden in die orientierungslosen, psychotischen Zustände der Figuren versetzt. Die schaurigen und gespenstischen Bilder, die No-Masken und die Tänze kreieren eine verunsichernde Brechung der Perspektive, so dass nicht mehr klar erscheint, wer auf welche Seite der verschlossenen Zellentür gehört. In seiner Darstellung von subjektiver, mentaler wie emotionaler Verwirrung einer der beeindruckendsten Anstalts-Filme.  

Vor dem Screening präsentieren und diskutieren Ichiro Kataoka, Dr. Shiro Yukawa (Universität Bonn) und Florian Höhr (Nippon Connection Festival Frankfurt/Main) Beispiele aus dem „Kataoka Schallplattenprojekt“. Kataoka hatte 2012 seine Sammlung aus 3900 japanischen Schellack-Platten an die Universität Bonn übergeben, die dort digitalisiert und systemisch erfasst wird. Die weltweit einzigartige Sammlung umfasst Platten aus den Jahren 1915 bis 1950, die vor allem aus der Film- und Unterhaltungskultur Japans dieser Jahre stammen.

Sa 10 SeptUT Connewitz
19:30 Uhr

21:00 Uhr
Kataoka Schallplattenprojekt

Performance auf Japanisch mit englischen Untertiteln
A PAGE OF MADNESS

regulär: 12€ / ermäßigt 10€

Ichiro Kataoka erwarb seinen Abschluss am Nihon University College of Art und begann 2002 seine Ausbildung bei Midori Sawato. Heute ist er der bekannteste Katsuben seiner Generation, der mit seinen Performances auch international in Erscheinung tritt. Kataoka hat als Benshi in verschiedenen Filmen mitgewirkt und arbeitet auch als Synchronsprecher für Animations- und Videospiele. 2020 veröffentlichte er die Monographie Katsudō Shashin Benshi: Eiga ni Tamashii wo fukikonda Hitobito (Die Geschichte der Filmerzähler: Menschen, die dem Kino Leben einhauchten). 

Reiko Emura ist geboren in Sendai, Japan. Nach einem Kompositionsstudium an der Staatlichen Hochschule für Musik und Kunst in Tokyo kam sie nach Deutschland und studierte Liedgestaltung an der Staatlichen Musikhochschule Karlsruhe bei Mitsuko Shirai und Hartmut Höll. Sie spielte eigene Werke mit dem Staatlichen Sinfonieorchester Ungarn, dem New Japan Philharmonic Orchestra, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und anderen. Sie spielte unter Dirigent:innen wie Maxim Schostakowitsch, Kenichiro Kobayashi und Robert Hanell.