Trailer | GEGENkino 2023

07.09. – 17.09.2023 | GEGENkino #9

TEASER GEGENKINO #9

Letztes Jahr schloss unser Editorial mit der Aufforderung: Sattelt die Fledermäuse! Da dachten wir uns: Mehr davon! Beim GEGENkino #9 gibt es deshalb sprechende Ziegen (mit Untertiteln). Theatral sterbende Wellensittiche. Fischkutter als schwimmendes Gomorrha. Hunde. Hunde. Hunde. Und den Hasen aus NEKROMANTIK. Die Welt der Tiere im Film ist eine Welt der Fiktionen, der Vermenschlichungen, oft auch des Missbrauchs. Aber auch der Fantastik, der Kompliz:innenschaft, der Poesie, der Reflexion, kurz: durch und durch menschengemacht. Oder vielleicht doch nicht? Wir erkunden dieses Jahr die Mensch-Tier-Verhältnisse in einer Reihe aus dokumentarischen und essayistischen Formen: ALL THAT BREATHES. Es ist eine sehr ansehnliche Sektion geworden. Kurz, mittel, lang. Digital und analog. Historisch und aktuell. Experimentell, immersiv, kontemplativ, selbstreflexiv. Wir nehmen viel diskutierte Werke ebenso unter die Lupe wie marginalisierte Positionen.

Auch jenseits dieses Schwerpunktes begegnen uns Tiere. Am Eröffnungsabend im UT Connewitz etwa lösen uns die bereits erwähnten Ziegen in THE LIFE AND STRANGE SURPRISING ADVENTURES OF ROBINSON auf erfrischende Weise aus der anthropozentrischen Fixierung, ohne dass der Film den Versuch unternimmt, authentisch eine tierische Wahrnehmung nachzuempfinden. Regisseur Benjamin Deboosere wird zu Gast sein und uns Rede und Antwort stehen. Dazu gibt es als Eröffnungsfilm das Langfilmdebüt des belgisch-kongolesischen Rappers Baloji zu bestaunen: OMEN ist eine bunte, unberechenbare, okkulte Bombe von Film. Definitiv ein Knaller!

Als weitere Spielstätte begrüßen wir dieses Jahr das mobile Milieu-Kino aus Wien. Ein umgebauter Lichtspiel-LKW mit 35mm-Projektor, der im Rabet, neben dem Kino der Jugend und auf dem Wagenplatz Karl-Helga Halt machen wird, um vergessene Fundstücke, Jahrmarktsfilme und aktuellen Grusel-Spaß auf euch abzufeuern. Besonders freuen wir uns über unseren Besuch aus Pristina. Alush Gashi und Ilir Hasanaj präsentieren an zwei Abenden Arbeiten aus der kosovarischen Filmlandschaft und dem Umfeld des Kino ARMATA, für das sie aktiv sind. 

Was noch? Jörg Buttgereit hat ein Buch über Vorbilder und das eigene Filmwerk geschrieben. Mit reichlich Anschauungsmaterial und hohem Unterhaltungsfaktor wird er Nicht Jugendfrei!: Tagebuch aus West-Berlin vorstellen, und im Anschluss schauen wir seinen nekrophilen Kultfilm Teil 1. Eine weitere, mit unterhaltsamen Beispielen der Popkultur gespickte Buchpräsentation beschert uns der Journalist Jens Balzer. In Ethik der Appropriation lotet er die komplexen Aspekte der kulturellen Aneignung aus und plädiert für einen produktiven Umgang damit.

Weiter mit einem „Achtung!“ – dieses Jahr ist die Filmvertonung ein Orgelkonzert! Der Stummfilmpianist Richard Siedhoff vertont den impressionistischen Schwarz-Weiß-Underground-Splatter BEGOTTEN auf der altehrwürdigen Effekt-Kinoorgel des Grassi Museums. Zusätzlich haucht er SCHENEC-TADY III von Heinz Emigholz, einem abstrakten Landschaftsfilm mit mathematischer Bilderpartitur einen Soundtrack ein. Eine kleine Hommage widmen wir dem fast vergessenen Filme-macher Martin Müller und seinem „ziellosen Kino“ – wunderbar, dass er dazu nach Leipzig kommt und die Auswahl seiner Arbeiten begleitet. 

Weiteres im Stakkato, weil es sonst den Rahmen sprengt: Selma Doborac wird ihren herausfordernden DE FACTO präsentieren und mit uns darüber sprechen. Eine Mafia-Saga aus Bollywood, philippinisches Sieben-Stunden-Slow-Cinema, grotesker Masken-Horror aus Österreich, wuchtiger Favela-Mad-Max-Mix als Dokufiktion, indigene Erinnerung als Widerstand, migrantische Soundsysteme treffen auf Thatchers Polizeistaat, der Terror eines Hauses ohne Ausgang, ein Punkfilm „wie ein Scorsese-Movie, der in der Bowery drei Tage zu Klump geprügelt wurde“, der faschistische Hasenstaat Efrafa und Virginia Woolfs Orlando als Trans-Kaleidoskop. 

Es ist angerichtet. Fühlt euch herzlich eingeladen. Endlich wieder GEGENkino-Zeit.

17.09.2023 | ORLANDO, MY POLITICAL BIOGRAPHY (FR 2023, Paul B. Preciado)

FR 2023, R: Paul B. Preciado, D: Emma Avena, Arthur, Virginie Despentes, 98’, OmdU, DCP

Aus queerer Perspektive gilt Virginia Woolfs Roman Orlando – eine Biografie von 1928 als wichtiger Moment der literarischen Moderne, weil in dessen Verlauf der junge Mann Orlando nach einem mehrtägigen Schlaf als Frau erwacht. Für seinen experimentellen Dokumentarfilm nimmt Paul B. Preciado die Figur des Orlando als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit seiner eigenen Transidentität und als spielerisches Angebot für trans und nicht-binäre Menschen, ihre individuellen Biografien zu schildern. Zwei Dutzend von ihnen schlüpfen in die Rolle Orlandos und berichten etwa von ihren jeweiligen Transitionen, ihrem Struggle mit der eigenen Geschichte, mit staatlichen und medizinisch-psychiatrischen Kontrollregimen und davon, was es bedeutet, von dominanten Geschlechterrollen abzuweichen. In unterhaltsamen und von einer widerständigen Haltung getragenen Episoden verweben Preciado und die weiteren Orlandos die Jetztzeit-Realität mit der fiktiven Biografie von Virginia Woolfs Figur, die sich vom Elisabethanischen Zeitalter über mehrere Jahrhunderte erstreckt. Was, wenn der Orlando des 16. Jahrhunderts heute leben würde? Wie würde er sich in der Praxis eines Psychiaters verhalten, an dessen Willkür die Verschreibung einer Hormontherapie hängt? Spätestens wenn sich im Warteraum die Diskokugeln zu drehen beginnen und die Anwesenden einen Dancefloor-Hit intonieren, wird klar, dass es hier nicht allein um Unterdrückung geht, sondern auch um die Entwicklung hin zu einem politischen Subjekt: „You are not the doctor‘s bitch. You might be synthetic, but you are not apologetic. The categories are pathetic.“

So 17 SeptUT Connewitz
21:00 Uhr€ 6,5 (5,5 ermäßigt)

TRAILER

17.09.2023 | IT IS NIGHT IN AMERICA (BR/FR/IT 2022, Ana Vaz) / {IF YOUR BAIT CAN SING THE WILD ONE WILL COME} LIKE SHADOWS THROUGH LEAVES (SG/FI 2021, The Migrant Ecologies Project)

Retrospektive | ANIMAL REALITIES

É NOITE NA AMÉRICA aka IT IS NIGHT IN AMERICA

BR/FR/IT 2022, R: Ana Vaz, Dok, 66’, OmeU, DCP

Durch die Nacht mit Eule, Affe, Fuchs, Wasser-schwein und Ameisenbär. Der experimentelle Dokumentarfilm IT IS NIGHT IN AMERICA beginnt mit einem in Indigoblau eingetauchten Schwenk über die Hochhauslandschaft Brasílias. Die Planstadt und heutige Hauptstadt Brasiliens wurde 1960 eingeweiht und hat das Habitat der einheimischen Tiere gravierend verändert. Wir träumen uns hinein in die geheimnis- und stimmungsvollen Filmbilder, gedreht auf abgelaufenem 16mm-Material, begleitet von einem melancholisch-wuchtigen Soundtrack. Wir sind unterwegs mit den Nachtgestalten in der Stadtlandschaft. Eine schwankend-zoomend-suchende Blickbewegung auf die vielen bedrohten Tierarten, die Schutz suchen. Von traum- zu albtraumhaft, zwischen Dokumentation, Horror und Fantasie verfolgt Regisseurin Ana Vaz mit ihrem Langfilmdebüt wie atemlos die Wege der Tiere, in einer ewig anmutenden düsteren Nacht. Dringen die Tiere in unsere Städte ein oder besetzen wir ihren Lebensraum?


TRAILER

{IF YOUR BAIT CAN SING THE WILD ONE WILL COME} LIKE SHADOWS THROUGH LEAVES

SG/FI 2021, R: The Migrant Ecologies Project (Konzept: Lucy Davis), Dok, 28’, OmeU, DCP

Tschilp! Wir werden gerufen. Enter here. In der sensuellen Klanglandschaft LIKE SHADOWS THROUGH LEAVES treffen in Singapurs ältester, einst gefeierter Sozialwohnanlage Tanglin Halt Nachbarschaften aus Natur und Urbanismus auf Vogelstimmen und Imitationen davon, auf Gesänge, flüsternde Erinnerungen und raschelndes Blattwerk. Durch Schlupflöcher, geleitet von Schattenspielen und Echos, suchend in Wohnhöhlen, bewegt sich die Filmerzählung in einer Migration aus Geräuschen, Strukturen und Licht. Die zugehörigen Vögel können wir nicht sehen, wir können nur den Lauf der Sonne abwarten und ihren Schatten folgen. Eine belebende, sinnliche Erforschung.


So 17. Sept
ANIMAL REALITIES
UT Connewitz
19:00 Uhr€ 6,5 (5,5 erm./red.)

TRAILER

17.09.2023 | ALL THAT BREATHES (UK/IN/US 2022, Shaunak Sen)

Retrospektive | ANIMAL REALITIES

ALL THAT BREATHES

UK/IN/US 2022, R: Shaunak Sen, Dok, 97’, OmeU, DCP

„Life itself is kinship. We‘re all a community of air.“ In einer provisorischen Vogelpflegestation in den Hinterzimmern einer Werkstatt in Neu-Delhi kümmern sich zwei muslimische Brüder und ihr Cousin hingebungsvoll um eine majestätische Vogelart: den Schwarzmilan. ALL THAT BREATHES ist eine ruhige, poetische Hommage an die unerlässliche Fürsorge gegenüber anderen Lebewesen, in einer der dichtest besiedelten Großstädte der Welt, in der soziale Unruhen brodeln. Mit dem Schwarzmilan lassen sich realpolitische Dimensionen erzählen, die immensen Einfluss auf das tägliche Leben der muslimischen Stadtbewohner:innen haben. Während die Vögel durch die schwere Luftverschmutzung krank vom Himmel fallen, liegt eine weitere Bedrohung durch die rechtsgerichtete Regierung und ihrem Staatsbürgerschaftsgesetz in der Luft. Alle suchen ihren Platz, versuchen sich an die verschlechternden Bedingungen anzupassen. Dabei nimmt die Kamera von Anfang an einen Standpunkt auf Augenhöhe der Tiere ein: wir schauen in die wunderschönen Gesichter der Milane, verfolgen ihre Flugbahnen und kreuchen auf dem Boden mit Ratten, Insekten und Fröschen. Das wirbelt weitere Fragen nach Speziesismus und Grenzen der Religionsfreiheit auf. Als die „Drachen-brüder“ ihren ersten verletzten Schwarzmilan in eine Tierklinik brachten, wurde er als „nicht-vegetarischer“ Vogel abgelehnt, denn fleischfressende Vögel werden als muslimisch angesehen und gelten im Hinduismus als rituell unrein.

So 17. SeptANIMAL REALITIES
UT Connewitz
17:00 Uhr€ 6,5 (5,5 erm./red.)

TRAILER