Sensory Ethnography Lab #3 | Sound Works by Ernst Karel / Caniba (F 2017, Véréna Paravel)

Dear friends of GEGENkino, today’s already the last day of our homage to the Harvard Sensory Ethnography Lab. Big thanks to everyone that same and has been involved so far! To close our homage we have this very special feature today at Luru Kino: at 6pm you’ll get the chance to hear two sound works of Ernst Karel. Sonic cinema! (If you need some context, here’s an interesting interview with Karel at Pitchfork.)

At 8pm, we’ll have a screening of the film CANIBA by Véréna Paravel and Lucien Castaing-Taylor that has been screening at documenta 14 last year as “Commensal“ as some of you might remember. There’ll be a discussion about the filmafter the screening as it’s quite hard to chew on. Read more about it below.

So 08. April 2018
Luru Kino
HOMMAGE: Sensory Ethnography Lab
18 UhrSound Works – Ernst Karel
MORNING AND OTHER TIMES
USA 2014, R: Ernst Karel, Audio, 30’
SWISS MOUNTAIN TRANSPORT SYSTEMS, RADIO EDIT
USA 2011, R: Ernst Karel, Audio, 55’
20 UhrCANIBA (F 2017) OV w/ English subtitles
D: Véréna Paravel & Lucien Castaing-Taylor 90’

SOUND WORKS – Ernst Karel

MORNING AND OTHER TIMES

USA 2014, R: Ernst Karel, Audio, 30’

SWISS MOUNTAIN TRANSPORT SYSTEMS, RADIO EDIT

USA 2011, R: Ernst Karel, Audio, 55’

Der filmische Kosmos des SEL zielt mit seinen visuell-sensitiven, Haptik und Körperwahrnehmung betonenden Dokumentarweisen darauf ab, die Möglichkeiten wissenschaftlicher wie ästhetischer Annäherung an kulturelle und ethnographische Phänomene zu erweitern, mitunter neue Sichtweisen auf die uns umgebende Objektwelt zu ermöglichen. Doch auch im Ausschluss dieser sichtbaren Erfahrung gehen die Arbeiten ungewohnte Wege: Auf rein auditiver Ebene erkundet Ernst Karel, Tonspezialist zahlreicher SEL-Filme, in seinen eigenständigen Sound-Experimenten mehrschichtige Klanglandschaften. Das Ergebnis sind gesellschaftsbewusste wie ästhetische Gebilde: Changierend zwischen sachlicher Fixierung des sozialen Charakters der porträtierten Orte und künstlerischer Komposition, die rätselhaft für sich steht. Über einen mehrwöchigen Zeitraum hinweg sammelte Karel für MORNING AND OTHER TIMES klangliche Eindrücke in Chiang Mai, Thailand. Ein Kaleidoskop natürlicher und städtischer, tierischer und menschlicher Geräuschkulissen: Hundebellen, Hahnenkrähen und Grillenzirpen auf der einen Seite, unverständlich bleibende Dialogfetzen, Motorengeratter und hymnenartige Gesänge auf der anderen. Dann, die eigenartige Poesie des mechanischen Rhythmus: In SWISS MOUNTAIN TRANSPORT SYSTEM bildet die schweizerische Alpenlandschaft den Hintergrund, vor dem sich Seilbahn- und Sessellift-Fahrten klanglich mit der vorbeiziehenden, flüchtig erfahrbaren Umwelt verzahnen. Auch hier wieder ein Ineinander von Mensch und Natur, technischer Reproduktion und autonomem Kunstwerk.


CANIBA

F 2017 DOK, R: Véréna Paravel & Lucien Castaing-Taylor, 90’, DCP, OmeU

CANIBA hat das GEGENkino-Team gespalten, sowohl mit der Darstellung des Inhalts als auch mit der Art der Ankündigung solch eines Inhalts – deswegen zwei sich ergänzende Texte und eine Diskussion nach dem Screening.

I

Ein Porträt der Nähe und Unnahbarkeit: Die Kamera fokussiert das Gesicht eines Mannes, tastend registriert sie jede Pore seiner verletzlich anmutenden Haut. Dann verliert sie wieder ihren Fokus, gleitet in Unschärfe ab. Der schemenhafte Hintergrund tritt nach vorn, das Gesicht hingegen zerrinnt zur unbestimmbar diffusen Masse – so wie es, wir werden es im lange währenden Interview erfahren, im Inneren dieses Menschen seine Entsprechung findet. Seine dumpfen Gedanken sind dominiert von Körperlichkeit und der Sehnsucht nach dieser. Auf eine Weise allerdings, die ihn von der Gesellschaft ausschließen muss. Issei Sagawa beging in den 1980er-Jahren in Paris einen Mord an einer Kommilitonin, die er anschließend, seinen kannibalistischen Sexualtrieb erstmals in die Tat umsetzend, in Teilen aß. Später wurde er in sein Heimatland Japan überstellt, wo seither sein Bruder mit ihm abseits der Außenwelt ein kärgliches Haus bewohnt. Jun Sagawa, bei dem ebenfalls körperliche Gewalt mit Lustgewinn einhergeht, scheint die einzige Person zu sein, die ihm zuhört und im Alltag unterstützt. Doch wechselt das Geschwisterverhältnis ständig zwischen Fürsorge und Abgestoßensein, zwischen Empathie und Nicht-Begreifen-Können. CANIBA reflektiert diese Diskrepanz: Wie kann man sich überhaupt der Psyche und ihrer Untiefen filmisch nähern?


II

In CANIBA porträtieren Véréna Paravel & Lucien Castaing-Taylor den zeitweise zur Kultfigur avancierten Mörder und Kannibalen Issei Sagawa und seinen Bruder Jun. Während sie sprechen, schleicht über weite Teile des Films die Kamera in extremen Close-Ups und mit wechselnder Schärfe die Gesichter und Körper der beiden entlang. Dabei enthält sich der Film einer moralisierenden Position und eröffnet dadurch einen schwer auszuhaltenden Raum der Ambivalenz, in dem die Brüder ihre misogynen Fantasien und (auto)aggressiven Fetische mitunter zelebrieren können. Das Regie-Duo vollzieht ein sinnlich-immersives Beschreiten der Ränder menschlicher Abgründe und keine Analyse der problematischen Verschränkung von gesellschaftlicher Faszination, Personenkult und medialer Vermarktung. Die Einflechtung von Werken der Pop- und Un-derground-Kultur – ein pornografisches Fragment mit Teilen eines Re-Enactments, ein verstörend-expliziter Comic Sagawas, der Song „La Folie“ der New-Wave-Band The Stranglers – dient hier dem Versuch einer alternativen, betont atmosphärischen Annäherung. Nach etlichen Skandalen, reißerischen Reportagen und makabren Kochshow-Auftritten rund um den „Celebrity Kannibalen“, interessiert sich CANIBA vielmehr für Formen von Begreifen und Grenzen von Bildwerdung. Ein kontroverses Stück Film, dessen Blick nicht didaktische, sondern suggestive Qualitäten hat.


Sensory Ethnography Lab #2 | Foreign Parts / Single Stream / Focus on China

We’ll continue our homage to the Sensory Ethnography Lab
Today at Luru Kino. Thanks to all y’all who came around yesterday and thanks to UT Connewitz and Prof. Dr. Ursula Rao. Today we’ll have Simon Rothöhler of Germany’s unbeatenly best film magazine Cargo as a guest to give a lecture on the SEL and introduce the first two films showing today: FOREIGN PARTS and SINGLE STREAM. Rothöhler also contributed a text to our special SEL booklet which you can find here:  GEGENkino 2018 SEL booklet—or tonight at Luru Kino. Here’s the schedule and further information:

Sa 07. April 2018
Luru Kino
HOMMAGE: Sensory Ethnography Lab
20 UhrForeign Parts + Single Stream
FOREIGN PARTS (USA/F 2010)
R: Véréna Paravel & J.P. Sniadecki 80’
& SINGLE STREAM (USA 2014)
R: Pawel Wojtasik, Toby Kim Lee & Ernst Karel 23’
22 UhrJ.P. Sniadecki | FOCUS ON CHINA
SONGHUA (USA/CHN 2007, DOK, R: J.P. Sniadecki, 28’, DCP, OmeU)
YUMEN (USA/CHN 2013, DOK, R: Xu Ruotao, J.P. Sniadecki, Huang Xiang, 65’, DCP, OmeU
THE YELLOW BANK (USA/CHN 2010, DOK, R: J.P. Sniadecki, 27’, DCP, OmeU, OV w/ English subtitles

Einführung von Jun.-Prof. Dr. Simon Rothöhler

FOREIGN PARTS / SINGLE STREAM

FOREIGN PARTS

USA/F 2010 DOK, R: Vèrèna Paravel & J.P. Sniadecki, 80’, DCP, OmeU

Ein Schrottplatz und Ersatzteil-Umschlagpunkt in Queens, New York City: Mikrokosmos einer vorwiegend migrantisch geprägten, so lebhaften wie prekären Großstadtkultur. Dialogfetzen privaten und geschäftlichen Inhalts, Barbecues, puerto-ricanischer Straßengesang, soziales Elend, Alkoholismus und zwischenmenschliche Solidarität. Vèrèna Paravel und J.P. Sniadecki, die jeweils auf unterschiedliche Weise ein Experimental-fi lm-Meisterwerk im SEL-Rahmen drehen sollten, LEVIATHAN (2012) und YUMEN (2013), gehen in FOREIGN PARTS noch cinéma vérité-artige Wege. Die Kamera ist kaum auf ästhetisch durchgebildete Komposition aus, sondern folgt unmittelbar den lose porträtierten ProtagonistInnen beim Nachgehen alltäglicher Verrichtungen: sei es Betteln, Ersatzteile besorgen oder zwischendurch in der Autowerkstatt tanzen. Das Gewerbegebiet „Willets Point“ ist vom Abriss bedroht und damit die Existenz von rund 250 Shops und über 2000 ArbeiterInnen. Residential Units, ein Convention Center und Ähnliches sollen nach Vorstellung der Stadtverwaltung an dessen Stelle treten. Ein ge-sellschaftspolitisch aufgeladener Film, ohne dass er je einen bestimmten Standpunkt forciert: er zeigt nur auf. 

SINGLE STREAM

USA 2014 DOK, Paweł Wojtasik, Toby Kim Lee & Ernst Karel, 23’, DCP, OmeU

SINGLE STREAM schwankt stärker zwischen der Schilderung eines spezifi schen Arbeitsalltags und davon abstrahierender, formalästhetischer Studie: Eine Mülltrennungs- und Recyclinganlage bietet Anlass für eine Ästhetisierung des Hässlichen. Far-ben, Formen und Materialoberfl ächen ziehen geis-terhaft durch die Cinemascope-Einstellungen, die Geräuschkulisse ist gleichermaßen eindringlich wie beängstigend.


J.P. Sniadecki | FOCUS ON CHINA

SONGHUA

USA/CHN 2007 DOK, R: J.P. Sniadecki, 28’, DCP, OmeU

YUMEN

USA/CHN 2013 DOK R: Xu Ruotao, J.P. Sniadecki, Huang Xiang, 65’, DCP, OmeU

THE YELLOW BANK

USA/CHN 2010 DOK, R: J.P. Sniadecki, 27’, DCP, OmeU

SONGHUA steht mit seinem Fokus auf das Wechselverhältnis von Mensch und Natur – konkret die Bedeutung des Flusses Songhua für die circa vier Millionen Einwohner Harbins – noch am ehesten in der Tradition des ethnographischen Dokumentarfilms. Lose und flüchtig werden Tourismus, Freizeitaktivitäten, Rendezvous und triviale Alltagsverrichtungen, aber auch die starke Verschmutzung des Gewässers registriert. Ein Fluss steht auch bei THE YELLOW BANK im Zentrum. Die statische, auf einer Fähre positionierte Kamera registriert in langsamer Fahrt während eines verregneten Vormittags die imposante Skyline Shanghais. Das Sujet und seine formale Gestaltung sind denkbar einfach. Doch dann passiert etwas Außergewöhnliches: peu à peu verdunkelt ein Naturphänomen das Großstadtszenario, bis es schließlich in völliger Finsternis angelangt. Beherrschte in THE YELLOW BANK die Natur für kurze Zeit völlig das Geschehen, so geht es in YUMEN um ihre Verwertung. Im Nordwesten Chinas liegt die ehemals lebhafte Industriestadt Yumen. Früher ein wichtiger Ölförderspot, heute eine verlassene und ruinöse Geisterstadt. Die eng kadrierten 16mm-Bilder, die selbst ihre angegriffene Materialität und Vergänglichkeit zur Schau stellen, erfassen gleichermaßen das schäbige Innere früherer Fabriken und Repräsentationsbauten, wie einzelne Personen, die sich geisterhaft durch diese bewegen.