12.09.2023 | PRIMATE (US 1974, Frederick Wiseman)

Retrospektive | ANIMAL REALITIES

US 1974, R: Frederick Wiseman, Dok, 105’, engl. OV, 16mm

PRIMATE

Der Dokumentarist Frederick Wiseman hat das Gros seines Filmschaffens dem Porträtieren von öffentlich (teil-)finanzierten Institutionen der Vereinigten Staaten gewidmet. Die demokratische Öffentlichkeit habe schließlich ein Recht zu erfahren, wo das Steuergeld hinfließt. Seit den 1970ern hat er dabei eine Methode entwickelt, der er bis heute treu geblieben ist: Keine erklärenden Voice-Over, keine externe Filmmusik, keine Talking-Head-Interviews, die für das Filmteam (bestehend aus Wiseman am Ton und seine Stammkameramänner) arrangiert wären. Das heißt nicht, dass die Filme „neutral“ auf ihre Mikrokosmen blicken; aus der Selektion des Materials aus abertausenden Filmmetern lässt sich die Haltung Wisemans ablesen. 

In PRIMATE begibt sich Wiseman in das Yerkes Primate Research Center, ein für den damaligen Standard avanciertes Forschungszentrum der Primatenforschung. Er ist hier vor allem an den für Außenstehende hermetisch wirkenden Abläufen interessiert, weniger an den individuellen Perspektiven der Akteur:innen. Was den Film für manch eine:n zu einer Bewährungsprobe macht, sind seine konzentrierten Blicke auf Tierversuchspraktiken, die mitunter die Assoziation zu Folterungen zulassen. „[E]ine Mischung aus Horror- und Science-Fiction- Film, in dem eine Gruppe von Primaten ihre Macht gegenüber einer anderen Gruppe von Primaten durchsetzt.“ (Hannes Brühwiler)


Di 12. Sept
ANIMAL REALITIES
Luru Kino in der Spinnerei
21:00 Uhr€ 6,5 (5,5 erm./red.)

11.09.2023 | DRY GROUND BURNING (BR/PT 2022, Joana Pimenta, Adirley Queirós)

BR/PT 2022, R: Joana Pimenta, Adirley Queirós, D: Joana Darc Furtado, Léa Alves da Silva, Andreia Vieira, 153’, OmeU, DCP

Chitara und Léa sind Halbschwestern und wiedervereint: Léa ist gerade wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie leben in Sol Nascente, einer trostlosen Favela am Stadtrand von Brasilia, und sind „gasolinheiras“: sie stellen aus Rohöl Benzin her und verkaufen es an lokale Motorradcrews. Mit einer Gruppe von Frauen betreiben sie eine kleine Fabrik, in der sie das Öl illegal aus Leitungen abzapfen und verarbeiten. So überleben sie inmitten von Drogenhandel und der Konkurrenz mit kriminellen Kartellen. 

DRY GROUND BURNING führt vielschichtig wie grimmig vor, wozu Entmündigungen bestimmter Gruppen und Gesellschaftsschichten unter einer autoritären Regierung führen können: zu Rebellion, gespickt mit Gewalt und Gegengewalt. Ästhetisch eine clevere Mischung aus dokumentarischen und fiktionalisierten Passagen, sehen wir Bilder von nächtlichen Eskapaden, militarisierten Polizeipatrouillen und von den Arbeitsprozessen in ihrer Fabrik – alles im Wechsel mit intimen Gesprächen der Frauen über Familie, die Zustände und die Möglichkeit einer Zukunft. Basis des Film ist das reale Leben der Porträtierten, angereichert mit visuellen Anleihen aus dem Gangstergenre und dystopischer Science-Fiction à la MAD MAX. Dank der Mittel des Kinos kann Léa am Ende des Films eine Rachefantasie verwirklichen: DRY GROUND BURNING kulminiert in einem Bild, das Zerstörung und Grazie vereint. Ein ungehemmtes, politisches Statement jenseits von Didaktik.

Mo 11. SeptSchaubühne Lindenfels
21:00 Uhr€ 6,5 (5,5 erm./red.)

TRAILER

11.09.2023 | KURZFILME AUS DEM KOSOVO

Carte blanche | KINO ARMATA

PA VEND / DISPLACED 

XK 2021, R: Samir Karahoda, 15’, OmeU, digital 

I HAVE NEVER BEEN ON AN AIRPLANE 

XK 2020, R: Redon Kika, 9’, OmeU, digital

JEHONË / ECHO 

XK 2022, R: Ana Morina, 8’, OmeU, digital 

SHPIJA / HOME 

XK 2022, R: Flaka Kokolli, 7’, ohne Dialog, digital 

GARDHI / FENCE 

XK/HR/FR 2018, R: Lendita Zeqiraj, 15’, OmeU, digital 

KANGË E DEFA: FEMALE RHAPSODY IN KOSOVA 

DE/XK 2014, R: Vincent Moon, Fatime Kosumi, 29’, Dok, OmeU, digital 

Alush Gashi und Ilir Hasanaj haben für das GEGENkino eine Kurzfilmrolle zusammengestellt, die einen Einblick in das gegenwärtige filmische Schaffen des Kosovo gewährt. Ästhetisch ist eine große Bandbreite an Arbeiten vertreten, angefangen etwa mit DISPLACED, der über den internationalen Festivalzirkus tourte und 2021 in Toronto als bester Kurzfilm ausgezeichnet wurde: Ein Tischtennisclub muss immer wieder umziehen, weil er über keine festen Trainingsräume verfügt. Alte Garagen, leerstehende Hochzeits-säle – mitunter wird die Platte auch kurzerhand auf dem Traktor transportiert. Eine humorvolle, subtil-metaphorische Studie über junges Talent in einer abweisenden Umgebung. Oder auch der fiktionale FENCE, in dem ein launiges Familientreffen mit dem unwillkommenen Eintreffen eines jungen Roma und seinem Hund langsam ins Chaotische abdriftet. FEMALE RHAPSODY IN KOSOVA spürt in einem poetischen Trip dem Klang der Landschaft nach, den Harmonien eines Landes durch seine traditionellen Frauengesänge – ein Mosaik voller Geschichten, Charaktere und Musik. Der Animationsfilm HOME thematisiert den Wunsch des Weggehens von einem Zuhause, bei dem das Zuhause aber mitkommt und immer dabei ist. Dazu mit I WAS NEVER ON AN AIRPLANE und JEHONË zwei Filme der „Neo_ School“ des Kino ARMATA.


Mo 11. Sept
KINO ARMATA
Schaubühne Lindenfels
19:00 UhrIn Anwesenheit von Alush Gashi und Ilir Hasanaj 
€ 6,5 (5,5 erm./red.)

Filme aus dem Kosovo | Kino ARMATA und darüber hinaus

Carte Blanche | KINO ARMATA

Im Zuge einer internationalen Kooperation begrüßen wir zwei Gäste aus Pristina: Alush Gashi, Direktor des ARMATA, sowie Ilir Hasanaj, Regisseur und Mitgründer desselben, werden an zwei Tagen ein von ihnen kuratiertes Programm kosovarischer Filme vorstellen und mit uns über das Kino ARMATA und die kosovarische Filmlandschaft ins Gespräch zu kommen. 

Das Kino ARMATA existiert in der kosovarischen Hauptstadt seit 2018 und beschreibt sich als „public space, promoting alternative culture and social dialogue“. Das Gebäude ist in staatlicher Hand und wurde der Stadtverwaltung Pristina zur Verfügung gestellt, die wiederum die Programmierung einem unabhängig arbeitenden Kollektiv überlässt – eine im Kosovo einmalige Konstellation. Dies ermöglichte eine Wiederaneignung von unten, nachdem das Gebäude in der Vergangenheit unterschiedlichen Zwecken diente. In den 1980ern nutzte es die jugoslawische Armee für Filmprogramme, Tanzabende und kulturelle Veranstaltungen (mitunter mit propagandistischem Ethos). Im Zuge der Verschlimmerung der politischen Situation zwischen Serbien und dem Kosovo Ende der 80er boykottierten Kosovo- Albaner:innen serbisch getragene kulturelle Institutionen, bis das Haus 1988 für die Öffentlichkeit geschlossen wurde und nur noch interne Veranstaltungen für serbisches Klientel stattfanden. In den 90ern wurde es während des Kosovokrieges vom Militär genutzt – nach dem offiziellen Ende des Krieges 1999 dann von der UN zu administrativen Zwecken bis 2017. Über all die Jahre blieb das sozialistische Interieur des Kinos und der angrenzenden Bürogebäude erhalten. Die Sitze des Kinos sind UN-blau. Somit bietet sich die Möglichkeit das kulturelle Erbe neu zu interpretieren: die Community, die sich rund um das Kino gebildet hat und bildet, ist eine lebendige Komponente bei der Einordnung historischer und sozialer Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. 

Die zwei Säulen des Programms sind Film und Musik. Neben einem Filmprogramm bieten sie mit der Plattform Neo_School niederschwellig zugängliche Intensivkurse im Filmemachen, Fotografie und Audioproduktion an. Darüber hinaus gibt es den kritischen Filmklub Kineto und das Tape- und Vinyl-label ARMATA Records, dessen Releases vor Ort produziert oder in Kooperation mit dem ansässigen Team entstanden sind. Über das ARMATA hinaus hat das kosovarische Kino in den Jahren seit dem Kosovokrieg eine bemerkenswerte Entwicklung und ein Wachstum erlebt und spiegelt die sozialen und kulturellen Veränderungen in dem kleinen, lebhaften Balkanland wider. Die Themen des kosovarischen Kinos drehen sich häufig um die Folgen des Krieges, um Identität und soziale Fragen und bieten einen Einblick in die Geschichte des Landes und seine aktuellen Herausforderungen. 

Kosovarische Filme finden international Beifall – trotz finanzieller Engpässe und begrenzter Ressourcen floriert das dortige Kino dank der Entschlossenheit und Kreativität seiner Filmemacher:innen weiter. Festivals wie das DokuFest in Prizren und das Prishtina International Film Festival (PriFest) sind zu wichtigen internationalen Plattformen geworden.

11.09.23
Schaubühne Lindenfels Kino
19 Uhr

Kurzfilmrolle
PA VEND / DISPLACED
XK 2021, R: Samir Karahoda, 15’, OmeU, digital 
I HAVE NEVER BEEN ON AN AIRPLANE
XK 2020, R: Redon Kika, 9’, OmeU, digital
JEHONË / ECHO
XK 2022, R: Ana Morina, 8’, OmeU, digital 
SHPIJA / HOME
XK 2022, R: Flaka Kokolli, 7’, ohne Dialog, digital 
GARDHI / FENCE
XK/HR/FR 2018, R: Lendita Zeqiraj, 15’, OmeU, digital 
KANGË E DEFA: FEMALE RHAPSODY IN KOSOVA 
DE/XK 2014, R: Vincent Moon, Fatime Kosumi, 29’, Dok, OmeU, digital
12.09.23
Schaubühne Lindenfels
19 Uhr

Deutschlandpremiere
KAH KQYRSHA PËRPJETË, E SHIHSHA VETEN PËRFUNI  / AS I WAS LOOKING ABOVE, I COULD SEE MYSELF UNDERNEATH 
CH/XK 2022, R: Ilir Hasanaj, Dok, 62’, OmeU, DCP 

10.09.2023 | Jörg Buttgereit: NICHT JUGENDFREI! TAGEBUCH AUS WEST-BERLIN | Nekromantik (DE 1988, Jörg Buttgereit)

Lesung, Diashow & Film | Jörg Buttgereit

NICHT JUGENDFREI! TAGEBUCH AUS WEST-BERLIN

Mit NEKROMANTIK (1988), DER TODESKING (1989), SCHRAMM (1993) und anderen Titeln hat Jörg Buttgereit die Nerven und den guten Geschmack der hiesigen Bürgerlichkeit und darüber hinaus strapaziert und zugleich maßgebliche Impulse für den Horrorfilm gesetzt. In seinem im Juni veröffentlichten Buch „NICHT JUGENDFREI“ blickt er nun, im Alter von fast 60 Jahren, auf sein Schaffen zurück – nicht nur als Filmemacher und Special Effects-Supervisor, sondern auch als Comicautor, Theater- und Hörspielregisseur. Dabei bietet das Buch einen höchst unterhaltsamen und reich bebilderten Einblick in das Entstehen der Filme, das bestimmt war von geringen Budgets und einem DIY-Spirit, der vor detaillierten Wundinszenierungen und aufwändig konstruierten Körperflüssigkeits-Fontänen nicht zurückschreckte. In der Rückschau auf seine Jugendjahre erweist sich Buttgereit zudem als sachkundiger Kenner diverser Musik- und Filmphänomene – angefangen von Martial Arts-Streifen und Monsterfilmen bis hin zur Punkkultur. Damit liefert er nicht nur Antworten auf die Frage, welche subkulturellen Einflüsse ihn geprägt haben, sondern er zeichnet im Vorübergehen zudem ein Porträt des Berliner Undergrounds in den Wendejahren.


NEKROMANTIK

DE 1988, R: Jörg Buttgereit, D: Beatrice Manowski, Daktari Lorenz, Harald Lundt, 75’, dt. OV, 35mm

Das Label des Skandalfilms verstellt den Blick auf die Sinnlichkeit, die in Jörg Buttgereits Langfilm-Debüt steckt: Bereits, wenn zu Filmbeginn Uwe Bohrers präzise Kamera den Schauplatz eines Autounfalls zu hypnotischen Soundtrackklängen abschreitet und uns so erstmals deformierte Körper vorführt, ahnt man, dass wir es hier mit weit mehr als mit kalkulierten Schocks zu tun haben. Diese Blicke haben etwas Zärtliches, sie haben mit der Liebe zum Gebastelten und der Faszination für die Unzulänglichkeiten des Körpers zu tun. 

„Jede Gesellschaft bekommt die Filme, die sie verdient“, hat Buttgereit einmal gesagt. Und so folgt später eine Parallelmontage, in der die Häutung eines Kaninchens mit einer Leichenobduktion verschränkt wird, bis plötzlich eine Gartenzwergfratze aufpoppt. Wir sind in einer Kleingartensiedlung – der ultimative Horror? NEKROMANTIK ist manchmal eben auch eine Komödie. Solche Szenenwechsel braucht es wie die Kalauer und den Splatterslapstick vielleicht auch, um die seelischen Abgründe drumherum erträglich zu machen. 

Die Geschichte ließe sich als Psychogramm eines Mannes beschreiben, der die Haftung zur Welt verloren hat, den seine Traumabewältigung in Zonen absteigen lässt, in die ihm niemand mehr zu folgen bereit ist. Dabei scheint es in den eigenen vier Wänden zunächst gut zu laufen. Betty teilt Robs Vorliebe für Leichen. Als sie ihn verlässt, bricht seine ohnehin brüchige Welt in zwei. Eine Passionsgeschichte in extremen Bildern. 

Do 7 SeptUT Connewitz
19:00 UhrLesung und Präsentation auf Deutsch
€ 11 VVK / 12 AK