13.09.24 | PISSE vertonen BIJOU

Vertonung | Pisse

It’s about to get sleazy. In seinem Klassiker des all male-adult films erzählt Wakefield Poole die Erlebnisse eines als „straight“ markierten Bauarbeiters und dessen Reise in unbekannte Sehnsüchte. Wir folgen dem mit Oberlippenbart, Flanellhemd und Schutzhelm ausgestatteten Namenlosen nach seiner Schicht auf dem Nachhauseweg durch die Straßen New Yorks. An einer Straßenecke wird eine Frau von einem Auto angefahren – dabei fliegt ihm ihre Handtasche vor die Füße. Er schnappt sich die Tasche, in der er zu Hause neben einem Lippenstift – erster und bei weitem nicht letzter Phallus der Geschichte – eine Einladung in den Club Bijou findet, der er ohne Weiteres nachkommt. Bei seinem Besuch trägt er unter seiner Denim keine Unterwäsche. Was folgt ist eine dichte Abfolge aus Fleisch und Farbe: sex driven surrealism, bei dem unser Protagonist allerdings weniger als aktiver Teilnehmer in Erscheinung tritt, sondern als zurückhaltende, womöglich schuldbeladene, Nebenfigur.

BIJOU

US 1972, D: Wakefield Poole, A: Bill Harrison, Robert Lewis, Peter Fisk, Cassandra Heart, 75’, no dialogue/projected silently, DCP

Trotz geringen Produktionsbudgets – die Clubszenen wurden innerhalb von vier Tagen in der Wohnung des Regisseurs gedreht – zieht Poole, der neben der Regie als Kameramann und Cutter tätig war, auf visueller Ebene alle Register: Split-Screens und mehrfache Bildüberlagerungen vermitteln den Zuschauenden die Gedankenwelt des Protagonisten. Hinzu kommen Spiegelkabinette und ein höchst expressiver Einsatz von Farbe und Licht, während das räumliche Setting aufs Wesentliche beschränkt bleibt. BIJOU stellt trotz all der geballten „Man on Man Action“ einen höchst avantgardistischen Beitrag zur Gay Erotica dar – für Heteros der perfekte Einstieg ins Gerne.

Ob Einstieg ins Genre oder nicht: zusätzlich versüßen wird das Ganze die Post-Punk-Band Pisse. In einer Auftragsarbeit des GEGENkinos widmet sie sich einer Neuvertonung von BIJOU. Ähnlich wie den Bauarbeiter des Films umweht Pisse seit ihrer Gründung vor über zehn Jahren eine Aura des Mysteriösen und der Unnahbarkeit. Die Mitglieder der Band aus Sachsen, die mittlerweile deutschland- und sogar weltweit Bekanntheit erlangt hat, streuen bewusst unzuverlässige Informationen über sich. Sie verweigern sich konsequent dem kommerziellen Musikbetrieb, stellen ihre Alben neben der Veröffentlichung in Vinyleditionen stets begleitend als Downloads zur Verfügung, bei denen man den Preis, den man dafür bezahlt, selbst bestimmen kann. Die Tageszeitung taz vergleicht Pisse mit dem sarkastischen Punk der frühen Goldenen Zitronen. Auch Kritiker:innen anderer Musik-Magazine begeistern sich für ihren Sound: Der Musikexpress wählte das Album „Mit Schinken durch die Menopause“ 2023 zu den 50 besten Punkalben aller Zeiten.

Wir dürfen gespannt sein, wie die Band, deren Instrumentierung mit einem Theremin bereits für eine Punkband eher ungewöhnlich ist, mit den Bilderreigen von BIJOU umgeht: ob sie sich an der Struktur des originalen Filmscores – beschwörend-atmosphärische Kompositionen und Loops von Gustav Holst und Alan Hovhaness, die durch eine Prise Led Zeppelin unterbrochen wird – orientieren. Ob sie eventuell Textfragmente oder Sprachfetzen einarbeiten, da ja die Pisse-Texte ihresgleichen suchen und es ja fast schade ist ohne. Ob sie vielleicht mehr Gewicht auf Synthesizer und Theremin legen. Oder ob sie mit Samples und Elektronik arbeiten. Wir wissen es nicht. Ulrich Gutmair schreibt ebenfalls in der taz über die Band: „Bei aller Räudigkeit sind Pisse mit den Wassern der Avantgarde gewaschen.“ Soweit also Gutmair. Der offizielle Promo-Text der Band dagegen verlautbart: „Gepeitscht vom Ekel spielen Pisse niedrige Musik für ein ehrloses Publikum.“ Wir freuen uns auf ästhetische Reibungsmomente zwischen Bild und Sound. Es wird ein Fest.

Fr 13. SeptUT Connewitz
20:00 UhrMit einer Einführung von Marco Siedelmann
€ 15

05.07.2024 | GEGENkino presents | Double Feature John Waters

Polyester US 1981, R./D.: John Waters, K: David Insley, M: Charles Roggero, D: Divine, Tab Hunter, Edith Massey, Mary Vivian Pearce, David Samson, Ken King, Mink Stole, 35mm, engl. OV

Der „American Dream“ im tropfnassen Schwitzkasten von AA-Treffen und Fetisch, Depression und Klebstoffschnüffeln, religiöser Doppelmoral und dysfunktionaler Familie. Mutter und Hausfrau Francine Fishpaw (Divine) steht vor den Scherben ihrer kleinbürgerlichen Idylle: Gatte Elmer (David Samson) entpuppt sich als Möchtegern-Playboy, der im Geheimen ein Pornokino führt. Auch die Kinder frönen ihren Hedonismen, Sohn Dexter etwa wird über seiner Besessenheit für Füße zum Serientäter. Derweil flüchtet sich Francine in den Alkohol, bis ihre tatsächliche Rettung, Super-Hunk Todd Tomorrow (Tab Hunter), am Horizont auftaucht. „Polyester“ ist nicht nur die erste Studio-Produktion des „Filth Maestro“, sie markiert zusätzlich Waters Hinwendung zu etablierteren Formen des Kinos. In der Erzählung und im Visuellen sucht er die Auseinandersetzung mit Hollywood-Melodramen im Stil von Douglas Sirk. Sein Humor bleibt gewohnt geschmacklos und grenzüberschreitend.

Hairspray US 1988, R./D.: John Waters, K: David Insley; M: Kenny Vance; D: Ricki Lake, Divine, Debbie Harry, Vitamin C, Sonny Bono, Leslie Ann Powers, Ruth Brown, Jerry Stiller, 35mm, OmdU

Waters und seine Muse Divine lieben die exaltierten Farben, Moden, Gags und Figuren des klassischen Hollywood-Musicals. Den „Camp“, den diese kunterbunt schrille Welt gelebter Träume ausstrahlt. Sie greifen das alles auf, machen daraus aber etwas anderes, Queeres: Ihr Retro-Musical, das der letzte Auftritt der früh verstorbenen Divine bleiben sollte, ist Eye-Candy wie die Vorbilder, aber eben auch Kritik am Puritanismus, allgegenwärtigen Rassismus und den Körpernormierungen der US-amerikanischen Nachkriegsjahrzehnte. Und es ist der erste Film, in dem Waters in den Mainstream hineinwill – trotz Baltimore-Underground-Spirit.


Fr 05. Juli
John Waters Doppel
LuRu Kino in der Spinnerei
14 Euro fürs Kombiticket.
19:00 UhrPolyester (US 1981 engl. OV, 35mm)
€ 8 (7 erm./red.)
21:00 UhrHairspray (US 1988 engl. OmdU, 35mm)
€ 8 (7 erm./red.)

10. Ausgabe GEGENkino

Wir sehen uns wieder: 05. – 15. September 2024

Trailer | GEGENkino 2023

07.09. – 17.09.2023 | GEGENkino #9

TEASER GEGENKINO #9

Letztes Jahr schloss unser Editorial mit der Aufforderung: Sattelt die Fledermäuse! Da dachten wir uns: Mehr davon! Beim GEGENkino #9 gibt es deshalb sprechende Ziegen (mit Untertiteln). Theatral sterbende Wellensittiche. Fischkutter als schwimmendes Gomorrha. Hunde. Hunde. Hunde. Und den Hasen aus NEKROMANTIK. Die Welt der Tiere im Film ist eine Welt der Fiktionen, der Vermenschlichungen, oft auch des Missbrauchs. Aber auch der Fantastik, der Kompliz:innenschaft, der Poesie, der Reflexion, kurz: durch und durch menschengemacht. Oder vielleicht doch nicht? Wir erkunden dieses Jahr die Mensch-Tier-Verhältnisse in einer Reihe aus dokumentarischen und essayistischen Formen: ALL THAT BREATHES. Es ist eine sehr ansehnliche Sektion geworden. Kurz, mittel, lang. Digital und analog. Historisch und aktuell. Experimentell, immersiv, kontemplativ, selbstreflexiv. Wir nehmen viel diskutierte Werke ebenso unter die Lupe wie marginalisierte Positionen.

Auch jenseits dieses Schwerpunktes begegnen uns Tiere. Am Eröffnungsabend im UT Connewitz etwa lösen uns die bereits erwähnten Ziegen in THE LIFE AND STRANGE SURPRISING ADVENTURES OF ROBINSON auf erfrischende Weise aus der anthropozentrischen Fixierung, ohne dass der Film den Versuch unternimmt, authentisch eine tierische Wahrnehmung nachzuempfinden. Regisseur Benjamin Deboosere wird zu Gast sein und uns Rede und Antwort stehen. Dazu gibt es als Eröffnungsfilm das Langfilmdebüt des belgisch-kongolesischen Rappers Baloji zu bestaunen: OMEN ist eine bunte, unberechenbare, okkulte Bombe von Film. Definitiv ein Knaller!

Als weitere Spielstätte begrüßen wir dieses Jahr das mobile Milieu-Kino aus Wien. Ein umgebauter Lichtspiel-LKW mit 35mm-Projektor, der im Rabet, neben dem Kino der Jugend und auf dem Wagenplatz Karl-Helga Halt machen wird, um vergessene Fundstücke, Jahrmarktsfilme und aktuellen Grusel-Spaß auf euch abzufeuern. Besonders freuen wir uns über unseren Besuch aus Pristina. Alush Gashi und Ilir Hasanaj präsentieren an zwei Abenden Arbeiten aus der kosovarischen Filmlandschaft und dem Umfeld des Kino ARMATA, für das sie aktiv sind. 

Was noch? Jörg Buttgereit hat ein Buch über Vorbilder und das eigene Filmwerk geschrieben. Mit reichlich Anschauungsmaterial und hohem Unterhaltungsfaktor wird er Nicht Jugendfrei!: Tagebuch aus West-Berlin vorstellen, und im Anschluss schauen wir seinen nekrophilen Kultfilm Teil 1. Eine weitere, mit unterhaltsamen Beispielen der Popkultur gespickte Buchpräsentation beschert uns der Journalist Jens Balzer. In Ethik der Appropriation lotet er die komplexen Aspekte der kulturellen Aneignung aus und plädiert für einen produktiven Umgang damit.

Weiter mit einem „Achtung!“ – dieses Jahr ist die Filmvertonung ein Orgelkonzert! Der Stummfilmpianist Richard Siedhoff vertont den impressionistischen Schwarz-Weiß-Underground-Splatter BEGOTTEN auf der altehrwürdigen Effekt-Kinoorgel des Grassi Museums. Zusätzlich haucht er SCHENEC-TADY III von Heinz Emigholz, einem abstrakten Landschaftsfilm mit mathematischer Bilderpartitur einen Soundtrack ein. Eine kleine Hommage widmen wir dem fast vergessenen Filme-macher Martin Müller und seinem „ziellosen Kino“ – wunderbar, dass er dazu nach Leipzig kommt und die Auswahl seiner Arbeiten begleitet. 

Weiteres im Stakkato, weil es sonst den Rahmen sprengt: Selma Doborac wird ihren herausfordernden DE FACTO präsentieren und mit uns darüber sprechen. Eine Mafia-Saga aus Bollywood, philippinisches Sieben-Stunden-Slow-Cinema, grotesker Masken-Horror aus Österreich, wuchtiger Favela-Mad-Max-Mix als Dokufiktion, indigene Erinnerung als Widerstand, migrantische Soundsysteme treffen auf Thatchers Polizeistaat, der Terror eines Hauses ohne Ausgang, ein Punkfilm „wie ein Scorsese-Movie, der in der Bowery drei Tage zu Klump geprügelt wurde“, der faschistische Hasenstaat Efrafa und Virginia Woolfs Orlando als Trans-Kaleidoskop. 

Es ist angerichtet. Fühlt euch herzlich eingeladen. Endlich wieder GEGENkino-Zeit.