„Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“ (RO/CZ/F/BG/D 2018, Radu Jude)

RO/CZ/F/BG/D 2018, R: Radu Jude, D: Ioana Iacob, Alex Bogdan, Alexandru Dabija, 139′, OmeU, DCP

Der Filmtitel sind Worte, die 1941 im rumänischen Ministerrat gefallen sind und die ethnischen Säuberungen, veranlasst vom kollaborativen Ministerpräsidenten Ion Antonescu, diskursiv einleiteten. Radu Judes Film umkreist diesen Satz, zeichnet ihn nach, verfremdet und kommentiert ihn. Gleich zu Beginn betritt die Schauspielerin Ioana Jacob das Bild, stellt sich als Theaterregisseurin Mariana Marin vor und schlüpft in deren Rolle. Sie plant ein öffentlich angelegtes, gut recherchiertes Reenactment, das einer präsenten, selektiven Geschichtsvergessenheit entgegenwirken soll, in dem es die rumänische Beteiligung am Holocaust thematisiert.
Heraus kommt dabei eben kein simpler, historischer Holocaust-Plot, sondern eine im Heute angesiedelte, vielschichtige Geschichte mit einer dokumentarischen Ästhetik, die metafiktional vergangene Gegenwart mit gegenwärtiger Vergangenheit verbindet. Als künstlerische Prinzipien schimmern dabei Brecht und Godard am Horizont. Der Film begegnet seiner empfindlichen Thematik mit einem Drehbuch voller Esprit, schnörkellos eleganter Kamera und einem spielerischen Sinn für Ironie, ohne dabei den Blick auf beschädigte Menschlichkeiten zu verlieren. „MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN“ ist voller dialektischer Momente und unterhält bis an den Punkt, an dem es ungemütlich wird.

19. April, 22 Uhr – Schaubühne Lindenfels – € 6,5 (5,5 erm.)


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Bêtes Blondes / Blonde Animals (FR 2018, Maxime Matray, Alexia Walther)

FR 2018, R: Maxime Matray, Alexia Walther, D: Thomas Scimeca, Basile Meilleurat, Agathe Bonitzer, 101′, OmeU, DCP

Genauso unwissend wie wir in Bêtes Blondes geworfen werden, genauso orientierungslos stolpert die Hauptfigur Fabien durch die Story und sein Leben. Für ihn unerklärlicher Weise wacht er im Wald auf, wo ihm ein geliehener Korkenzieher zurückgegeben wird, und nachdem Fabien die Einladung der Picknicker zu einem Grillfest annimmt, stiehlt er ihnen den sorgfältig marinierten Lachs und flüchtet in den Wald, wo der Fisch im Magen eines Jagdhundes landet. Diese kauzige
Eröffnungssequenz entwickelt sich zu einem noch kauzigeren Road Movie, das so unberechenbar ist wie die Handlungen eines ehemaligen Sitcom-Stars, dessen Kurzzeitgedächtnis nur mit Alkohol am Laufen gehalten werden kann (Fabien). Dafür, was die menschliche Existenz ausmacht, wenn man ihre Erinnerungen abzieht, interessiert sich der Film nur am Rande. Er nimmt Fabiens Einschränkungen (hinzukommt der Verlust des Geschmackssinns) als komischen Antrieb, die Handlung voranzubringen. Sie besteht aus schillernden und absurd-witzigen Episoden, die gelegentlich an der Grenze des guten Geschmacks arbeiten. Fabien trifft seinen ab sofort steten, aber immer wieder vergessenen Begleiter Yoni, der indirekt den Tod seines Boyfriends herbeigeführt haben soll, so behauptet es zumindest die Familie des Enthaupteten, dessen Beerdigung gerade vorbereitet wird. Gemeinsam versuchen sie zum Aufgebahrten vorzudringen…

20. April, 22 Uhr – Schaubühne Lindenfels – € 6,5 (5,5 erm.)


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Das melancholische Mädchen (D 2019, Susanne Heinrich)

D 2019, R: Susanne Heinrich, D: Marie Rathscheck, 80′, dOV, DCP

Das melancholische Mädchen driftet durchs Sein. Sucht ein Lager in der Nacht. Begegnet den Schwärmern und Gestalten. Lässt sich ein. Zieht sich aus. Und dann weiter. Als Alien, Kunstfigur, Every-Woman. Ein offenes Spiel. Mit dem internalisierten Bildgedächtnis und den Erwartungen daran, wie Mädchen und Frauen zu sein haben. Die Projektions- wird zur Verhandlungsfläche. Körper trifft These trifft durchkommerzialisierte Selbstoptimierung. Zwischen performten Antworten und gelangweilten Interaktionen blitzt es auf, bricht es unter Make-Up, Hairstyle und der Lollipop-Ästhetik hervor: Frausein, Menschsein, Verbündetsein – im Angesicht der Individualisierungsmaschine. Susanne Heinrichs Debütfilm interessiert sich für die sozialen und politischen Dimensionen von Depression. In den Mantel eines feministischen Manifests kleidet sich ein existentielles Wagnis: Begehren und Begegnen jenseits von Rollenklischees und Marketingstrategien. Das Sich-aufs-Spiel-Setzen wird dabei solange verhandelt, bis es sich verwandelt, weg von idealisierter, romantisierter und banalisierter Aufforderung hin zu einer Möglichkeit.

In Anwesenheit von Susanne Heinrich

20. April, 20 Uhr – Schaubühne Lindenfels – € 6,5 (5,5 erm.)


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https://www.youtube.com/watch?v=imAgFJVV59w

EXTINÇÃO / EXTINCTION (PT/D 2018, Salomé Lamas)

PT/D 2018, R: Salomé Lamas, 80′, OmeU, DCP

Die Konflikte um nationalstaatliche Souveränitäten von post-Sowjetrepubliken haben sich in den vergangenen Jahren als gewaltgesättigt und kaum zu schlichten herausgestellt. Entstanden während der Annexion der Krim durch Russland, verhandelt EXTINCTION diese geopolitischen Lagen ausgehend vom nicht De-facto-Regime Transnistrien genauso wie deren unmittelbaren Effekte, die in individuelle Erfahrungsräume und Biografien hineinreichen und fluide nationale Identitäten hervorbringen.

Im Zentrum des Films steht der junge Kolya, dessen Solidarität voll und ganz Transnistrien gilt, das sich Anfang der 1990er Jahre von der Republik Moldau unabhängig machte, das allerdings – von der internationalen Staatengemeinschaft unbeachtet – offiziell nicht anerkannt wird und dessen Einwohner*innen mittlerweile große Russland-Sympathien hegen. In schwarz-weiß Bildern und mit einem freien, traumähnlichen Erzählmodus begleitet der Film Kolya zu Sowjetarchitekturen – steingewordene Utopien, die heute nicht mehr an gesellschaftlichen Fortschritt mahnen, sondern nur noch an das Vergehen der Zeit erinnern. Begegnungen mit rumänischen, ukrainischen und moldavischen Grenzsoldaten erzeugen einen surreale Atmosphäre, die durch die Tonspur zusätzlich intensiviert wird: beunruhigende Avantgarde-Orchestrierungen wechseln mit düsterem Drone-Sound. Dazu immer wieder Worte und Gedanken, die alle nationalstaatlichen Konstrukte transzendieren.

21. April, 20 Uhr – Schaubühne Lindenfels – € 6,5 (5,5 erm.)

[Parafiktion | Salomé Lamas]


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Eldorado XXI (PT/F 2016, Salomé Lamas)

PT/F 2016, R: Salomé Lamas, 125′, Dok, OmeU, DCP

Kein Goldrausch, nicht die Aussicht auf schnellen Reichtum, sondern die Hoffnung darauf, das Elend etwas zu mildern, treibt die Leute ins Minenrevier La Rinconada, die höchstgelegene Siedlung der Welt. In den peruanischen Anden auf 5000 Metern Höhe knechten Arbeiter*innen unter vorindustriellen Produktionsbedingungen mit ihren schlichten Werkzeugen – über Tage der widrigen Witterung ausgesetzt, unter Tage begleitet von der Angst, bei einem Grubeneinsturz von Erdmassen begraben zu werden. Allein der Koka-Rausch hält die Wirklichkeit auf Abstand.

Die Unerbittlichkeit der Verhältnisse übersetzt Lamas in eine fast einstündige Eröffnungssequenz, deren Perspektive statische ist und die dennoch von viel Bewegung durchzogen ist. Wie in einem Wimmelbild erklimmen hunderte, unkenntliche Mineros einen Berghang, dessen ihn umgebende Dunkelheit nur durch den Schein ihrer Helmlampen erhellt wird. Unterlegt ist die Monotonie des Malstroms mit Berichten von Arbeiterinnen, mit Ausschnitten, Jingles und Unfallberichten aus dem Minenradio. Auf dieses Stück rigorosen Dokumentarismus folgen in ihrer Kargheit expressive Bilder von tristen Abraumhalden, von Gewerkschafterinnen, die sich im Schneetreiben treiben treffen, bis sich die Dorfgemeinschaft schließlich bei einem bunten und lärmenden Fest zusammenfindet.

20. April, 22 Uhr – Schaubühne Lindenfels – € 6,5 (5,5 erm.)

[Parafiktion | Salomé Lamas]


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