Retrospektive | ANIMAL REALITIES
É NOITE NA AMÉRICA aka IT IS NIGHT IN AMERICA









BR/FR/IT 2022, R: Ana Vaz, Dok, 66’, OmeU, DCP
Durch die Nacht mit Eule, Affe, Fuchs, Wasser-schwein und Ameisenbär. Der experimentelle Dokumentarfilm IT IS NIGHT IN AMERICA beginnt mit einem in Indigoblau eingetauchten Schwenk über die Hochhauslandschaft Brasílias. Die Planstadt und heutige Hauptstadt Brasiliens wurde 1960 eingeweiht und hat das Habitat der einheimischen Tiere gravierend verändert. Wir träumen uns hinein in die geheimnis- und stimmungsvollen Filmbilder, gedreht auf abgelaufenem 16mm-Material, begleitet von einem melancholisch-wuchtigen Soundtrack. Wir sind unterwegs mit den Nachtgestalten in der Stadtlandschaft. Eine schwankend-zoomend-suchende Blickbewegung auf die vielen bedrohten Tierarten, die Schutz suchen. Von traum- zu albtraumhaft, zwischen Dokumentation, Horror und Fantasie verfolgt Regisseurin Ana Vaz mit ihrem Langfilmdebüt wie atemlos die Wege der Tiere, in einer ewig anmutenden düsteren Nacht. Dringen die Tiere in unsere Städte ein oder besetzen wir ihren Lebensraum?
{IF YOUR BAIT CAN SING THE WILD ONE WILL COME} LIKE SHADOWS THROUGH LEAVES
SG/FI 2021, R: The Migrant Ecologies Project (Konzept: Lucy Davis), Dok, 28’, OmeU, DCP

Tschilp! Wir werden gerufen. Enter here. In der sensuellen Klanglandschaft LIKE SHADOWS THROUGH LEAVES treffen in Singapurs ältester, einst gefeierter Sozialwohnanlage Tanglin Halt Nachbarschaften aus Natur und Urbanismus auf Vogelstimmen und Imitationen davon, auf Gesänge, flüsternde Erinnerungen und raschelndes Blattwerk. Durch Schlupflöcher, geleitet von Schattenspielen und Echos, suchend in Wohnhöhlen, bewegt sich die Filmerzählung in einer Migration aus Geräuschen, Strukturen und Licht. Die zugehörigen Vögel können wir nicht sehen, wir können nur den Lauf der Sonne abwarten und ihren Schatten folgen. Eine belebende, sinnliche Erforschung.
So 17. Sept | ANIMAL REALITIES UT Connewitz |
| 19:00 Uhr | € 6,5 (5,5 erm./red.) |
Retrospektive | ANIMAL REALITIES
ALL THAT BREATHES
UK/IN/US 2022, R: Shaunak Sen, Dok, 97’, OmeU, DCP











„Life itself is kinship. We‘re all a community of air.“ In einer provisorischen Vogelpflegestation in den Hinterzimmern einer Werkstatt in Neu-Delhi kümmern sich zwei muslimische Brüder und ihr Cousin hingebungsvoll um eine majestätische Vogelart: den Schwarzmilan. ALL THAT BREATHES ist eine ruhige, poetische Hommage an die unerlässliche Fürsorge gegenüber anderen Lebewesen, in einer der dichtest besiedelten Großstädte der Welt, in der soziale Unruhen brodeln. Mit dem Schwarzmilan lassen sich realpolitische Dimensionen erzählen, die immensen Einfluss auf das tägliche Leben der muslimischen Stadtbewohner:innen haben. Während die Vögel durch die schwere Luftverschmutzung krank vom Himmel fallen, liegt eine weitere Bedrohung durch die rechtsgerichtete Regierung und ihrem Staatsbürgerschaftsgesetz in der Luft. Alle suchen ihren Platz, versuchen sich an die verschlechternden Bedingungen anzupassen. Dabei nimmt die Kamera von Anfang an einen Standpunkt auf Augenhöhe der Tiere ein: wir schauen in die wunderschönen Gesichter der Milane, verfolgen ihre Flugbahnen und kreuchen auf dem Boden mit Ratten, Insekten und Fröschen. Das wirbelt weitere Fragen nach Speziesismus und Grenzen der Religionsfreiheit auf. Als die „Drachen-brüder“ ihren ersten verletzten Schwarzmilan in eine Tierklinik brachten, wurde er als „nicht-vegetarischer“ Vogel abgelehnt, denn fleischfressende Vögel werden als muslimisch angesehen und gelten im Hinduismus als rituell unrein.
| So 17. Sept | ANIMAL REALITIES UT Connewitz |
| 17:00 Uhr | € 6,5 (5,5 erm./red.) |
PH 2022, R: Lav Diaz, D: John Lloyd Cruz, Shaina Magdayao, Hazel Orencio, 412’, OmeU, DCP








„[T]hey always label my works as long film, slow cinema or, even, comatose cinema, then, why not a sine-nobela (film-novel). My works were and are, actually, written freely like novels or long poems.“ So der Filmemacher, Drehbuchautor, Produzent, Kameramann und Komponist Lav Diaz anlässlich seines neuen Films A TALE OF FILIPINO VIOLENCE.
Diaz‘ Erzählen ist häufig so breit, dass die Laufzeit einen regulären Kinostart ausschließt. So werden die Filme nur auf Festivals gesehen oder – der häufigste Fall – zuhause gestreamt. Dabei sind es Leinwandfilme, die vom Dispositiv Kino leben: Das Gefühl für Zeit kommt einem abhanden, Räume falten sich immer weiter auf, die Objektwelt teilt sich auf neue Weise mit. Es gibt die Ruhe, sich in alles einzusehen, auch herauszugehen und ohne Mühe wieder einzusteigen.
Die neue siebenstündige Filmnovelle erzählt in Schwarzweiß von der Allgegenwart der Gewalt in Diaz‘ Heimatland. Angesiedelt in der Hochphase der Diktatur von Ferdinand Marcos (1973-74) folgen wir dem Feudalherren Servando Monzon III, wie er angesichts des Terrors zu hinterfragen beginnt, sich den Traumata seiner Generation stellt. Die Adaption einer Kurzgeschichte von Ricardo Lee ist mehr als ein Geschichtsfilm: Es ist eine Parabel, die bis zur spanischen Eroberung zurückreicht und ins Gegenwärtige hineinragt. Vor kurzem wurde Ferdinand Marcos Jr. zum neuen Präsidenten gewählt …
| So 17. Sept | Luru Kino in der Spinnerei |
| 12:00 Uhr | € 8 (7 erm./red.) |
CA 2022, R: Kyle Edward Ball, D: Lucas Paul, Dali Rose Tetreault, Ross Paul, Jaime Hill, 100’, OmeU, DCP










Ein nicht greifbares Grauen ist in einem Haus zu spüren, als die beiden Kinder Kevin und Kaylee eines Nachts allein zu Hause sind. Der Vater ist verschwunden und bald werden sie mit unheimlichen Kräften konfrontiert.
Der Horrorfilm SKINAMARINK profitiert von seinen gewollten Unvollkommenheiten, bedingt durch ein Budget von 15.000 Dollar. Die grobkörnige Bildästhetik verleiht dem Film eine gespenstische Realität. Die wiederholten Aufnahmen von auf dem Boden verstreutem Spielzeug, von Türrahmen und Wänden zeugen von einer spezifischen und effektiven Horror-Ästhetik. Aufgrund des einfachen Settings wirken die Aufnahmen oft mehrdeutig, so dass nicht immer klar ist, was gerade zu sehen ist. Die beengende Atmosphäre wird durch das Sounddesign unterstützt. Die Dialoge sind gedämpft, an einigen Stellen helfen Untertitel. Diese Methode zieht das Publikum mitten in einen formal strengen Albtraum hinein – die dumpfe Tonqualität zwingt die Zuschauenden, genauer hinzuhören und dem Gesagten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Gleichzeitig klingen Dinge oft zu nah, so dass man sich zurücklehnen will. Diese widersprüchlichen akustischen Hinweise versetzen eine:n in einen ständigen Zustand des Hinein- und Herauslehnens und machen das Publikum zu einem:r aktiven Teilnehmer:in des Grauens.
| Sa 16. Sept | Luru Kino in der Spinnerei |
| 22:30 Uhr | € 6,5 (5,5 erm./red.) |
Hommage | Martin Müller








Martin Müller (*1947 in Pausa/Vogtland) ist heute leider weitgehend ein Unbekannter des deutschen Kinos. Das liegt wohl teils an seinem schmalen OEuvre als Regisseur – knapp zehn Kurz- und Langfilme entstanden zwischen 1967 und 1982 (hinzu kommen zahlreiche Regieassistenzen und Tonarbeiten) –, hat aber auch mit der gängigen Rezeption der Oberhausener und des Neuen Deutschen Films zu tun. Im Schatten von Kluge, Schlöndorff, Wenders, Fassbinder und Co. stehen nämlich bis heute einige der interessantesten Filmemacher:innen der Zeit. Was für Müller zutrifft, gilt so auch für die sogenannte Münchner Gruppe, deren jüngstes Mitglied er war. Zwischen 1964 und 1972 schufen hier Jungfilmer wie Klaus Lemke, Rudolf Thome, Max Zhilmann, Eckhart Schmidt – und an der Peripherie u.a. May Spils, Werner Enke und Marran Gosov – Filme, die sich sowohl vom gediegenen Kino der Großstudios als auch vom politisiert-pädagogischen Impetus der selbsternannten Erneuer des deutschen Films abhoben. Ihr Kino sollte lässig daherkommen, mit dem eigenen Leben und Empfinden zu tun haben. Ein uneitles, häufig lustiges Gegenwartskino, das seine Ziel- und Tendenzlosigkeit stolz vor sich herträgt.
ANATAHAN, ANATAHAN
DE 1968, R: Martin Müller, D: Veith von Fürstenberg, Klaus Lemke, Sonja Lindorf, Werner Enke, 50’, dt. OV, digital
Der Vorspann listet die Namen der „Beteiligten“ ohne Funktionen nacheinander auf, vermengt dabei Filmcrew und eigene Idole: Martin Müller, Bob Dylan, Veith von Fürstenberg, Amon Düül II, Sonja Lindorf. In der Schwabinger WG wird nämlich viel Musik gehört – mit ihr gelebt.
Man lebt in den Tag hinein, hält sich mit Statist:innenjobs über Wasser (auf jede Produktion mit Langhaarigen sei man eh abonniert), ruft sich von Zimmer zu Zimmer an, wenn man etwas braucht, plant ein Theaterstück, dessen Text schlicht aus einer Collage herausgerissener Seiten von Klassikern besteht. Am Ende bleibt von diesem Vorhaben nur der Musikpart übrig. „Erfolgreicher“ ist da schon Veith, der einen Kurzfilm namens ANATAHAN, ANATAHAN gedreht hat. Dort streift ein von Werner Enke verkörperter Slacker durch die Straßen und bezahlt partout nicht für Obst und Kaffee. Der im letzten Jahr verstorbene Outlaw-Independent-Auteur Klaus Lemke ist in seiner Rolle des deutschen Hollywoodregisseurs von diesem Debüt beeindruckt, verspricht Veith eine Karriere. Als Jungfilmer, der es mit dem Pseudonym „Montgomery Hathaway“ über den großen Teich geschafft hat, greift er auch augenzwinkernd den Hollywoodfimmel der Münchner Gruppe auf. Wunsch, Ironie und die Realität des eigenen Alltags fließen in ANATAHAN, ANATAHAN ineinander. Ein vergessenes Meisterwerk des unangepassten BRD-Kinos jenseits jeder Problemfilmhaftigkeit.
Vorfilme
DIE KAPITULATION
DE 1967, R: Martin Müller, D: Katja Borsche, Klaus Lemke, Marran Gosov, 10’, dt. OV, 35mm
DER ZINNSOLDAT
DE 1968, R: Martin Müller, D: Uschi Obermaier, Christian Fiedler, 11’, dt. OV, 35mm
UNSER DOKTOR
DE 1970, R: Martin Müller, D: Martin Müller, Max Zhilmann, Veith von Fürstenberg, 10’, dt. OV, 35mm
Der mittellange Hauptfilm wird ergänzt um drei Kurzfilme von Müller, die in zeitlicher Nähe zu ANATAHAN, ANATAHAN entstanden und für seinen spielerischen Umgang mit der kleinen Form stehen: DIE KAPITULATION (1967), DER ZINNSOLDAT (1968) und UNSER DOKTOR (1970). Die raren 35mm-Kopien – Unikate! – stellt uns Bernhard Marsch zur Verfügung, Filme- und Kinomacher sowie Gründungsmitglied des unter Cinephilen legendären Kölner Filmclubs 813 e.V. Marsch kennt sich wie kaum ein:e andere:r mit der Münchner Gruppe und dem BRD-Kino der 1960er bis 80er jenseits von Papas und Wenders-Schlöndorffs-Kino aus. Er wird mit Martin Müller und euch zu seinem Werk und dessen Entstehungszeit ins Gespräch kommen.
| Sa 16. Sept | Luru Kino in der Spinnerei |
| 20:00 Uhr | In Anwesenheit von Martin Müller. Das Gespräch führt Bernhard Marsch (Filmclub 813 Köln). € 6,5 (5,5 erm./red.) |